"Wir wünschen allen Fahrgästen, die in Ludwigslust aus- oder umsteigen, einen schönen Tag!" ertönt die Durchsage im Zug. Danke, denkt Andrea, dieser Tag wird ganz bestimmt schön. - Sie gehört heute zu genau diesen Fahrgästen; in Kürze fährt sie mit der Regionalbahn, die bereits auf dem Gleis steht, nach Wismar weiter. Drinnen macht sie es sich auf einem der grünen Polstersitze bequem. Interessiert liest sie die Namen der Orte, in denen der Zug hält. Namen, deren Klang ihr vertraut vorkommt, denn sie sind slawischen Ursprungs. Ganz wie jene, die sie aus der brandenburgischen Stadt kennt, in der sie aufgewachsen ist, und aus deren Umgebung. Berlin ist ebenfalls eine slawische Gründung, der Stadtname selbst sowie zahlreiche Ortsteil- und Landschaftsbezeichnungen weisen darauf hin. Mit Lüb- beginnt so mancher Name oder endet mit -ow, -itz oder -in. Mecklenburg-Vorpommerns Landeshauptstadt Schwerin liegt auch auf dieser Strecke, doch bis Andrea dort angekommen ist, wird es einige Zeit dauern. Zum überwiegenden Teil sind es Dörfer, in denen die Bahn halt macht. Der 16. Dezember ist ein ruhiger, trockener Wintertag, die Sonne scheint. Andrea sieht winzige Häuser, grüne Wiesen, abgeerntete Felder. Der Schnee läßt auf sich warten - aber Andrea vermißt ihn auch nicht. Der Zug durchquert gemächlich Seen- und Flußlandschaften; bis zur Küste ist es noch ein Stück.
Von Wismar aus soll es mit dem Bus nach Boltenhagen weitergehen. Andrea sieht sich auf dem Bahnhof nach einem Hinweisschild auf eine Bushaltestelle um, entdeckt aber zunächst keines. Ganz in Gedanken nimmt sie die Bahnhofstreppe nach unten - und rutscht von einer der Stufen ab, stürzt. Zum Glück kann sie wenige Augenblicke später ihren Weg fortsetzen; also ist nichts Ernstes passiert. Auch ihre Kleidung ist unversehrt geblieben. Andrea greift vorsichtig in eine Weihnachts-Geschenktüte, rot mit einem buntgeschmückten Tannenbaum darauf, die sie in der Hand hält. Sie überprüft den Inhalt. Alles hat den Sturz unbeschadet überstanden. Die Tüte ist innen mit allerlei Stoffresten ausgepolstert, vielleicht haben diese einiges abgehalten. Sie nimmt den Pfefferkuchen am Umhängeband heraus, der wie ein Haus geformt ist, etwa die Größe ihrer Hand hat und mit mehrfarbigem Zuckerguß, Schokolinsen und zwei süßen Mini-Smileys dekoriert ist. Das Gebäck hat sie von einer Wohnungsbaugenossenschaft zur Verfügung gestellt bekommen, die vor zwei Wochen genau wie der Nachbarschaftstreff einen Stand auf dem Kiez-Winterfest hatte. Die Verzierungen hat sie im Rahmen einer Aktion selbst angebracht. Mit Zuckerschrift hat sie "R + P" auf das Häuschen geschrieben. Die Geschenkpackung enthält weiterhin ein weißes Melamin-Frühstücksbrettchen mit der Aufschrift "Danke" und sieben Blumen in den Chakren- bzw. Regenbogenfarben. Saugfüße aus Gummi an den Ecken sollen verhindern, daß das Brett wegrutscht. Zu guter Letzt hat Andrea ein Gipsrelief mit eingepackt, das ein liegendes Pferd von der Seite zeigt. Witzigerweise war ihr das Relief auf ihrer Arbeit in die Hände gefallen, nur eben noch nicht bemalt. Da hatte sich Andrea ´mal wieder gedacht, daß es keine Zufälle gibt, und das Pferd mit Porzellanmalfarben gestaltet. In Braun- und Gelbtönen, mit silbern glitzernder Mähne und einem kreisrunden, blauschimmernden Auge. Für den Hintergrund hat sie ein sanftes Wiesengrün gewählt und rings um das Tier mit dunkelblauem, wasserfestem Stift die Worte "Kyangmo Nyel Tang" geschrieben, den tibetischen Namen der Lu-Jong-Übung "Wie das Wildpferd sich hinlegt". Andrea hat vor der Abreise das Relief noch einmal in drei Stoffschichten eingewickelt, damit es auf der Fahrt nicht in Mitleidenschaft gezogen wird. - Nun möchte sie gern eine Kleinigkeit essen, bevor sie sich auf die Suche nach der Busstation begibt. Auf dem Bahnhof selbst scheint es nicht einmal einen Imbiß zu geben, und die benachbarte Gaststätte "Gleisbett" hat noch nicht geöffnet. Andrea erkundigt sich bei einer Dame nach dem Weg zum Busbahnhof. Die Frau zeigt ihr die Richtung dorthin, etwa 5 Minuten laufe man, immer geradeaus. Am Busbahnhof angelangt, sucht sie nach dem Bussteig, von dem die Linie 240 nach Boltenhagen abfährt. Sie spaziert über das Gelände. In einer Wartehalle, die, wie sie erfreut feststellt, gut geheizt ist, stehen ein Getränke- und ein Snackautomat zur Verfügung. Andrea entscheidet sich für ein Knäckesandwich der Geschmacksrichtung Käse-Tomate-Basilikum und nimmt einen Cappuccino dazu.
Im Bus findet sie sogleich einen Sitzplatz. Es geht auch hier wieder über die Nester, wie man in ihrer alten Heimat zu kleinen Dörfern sagt. Sie findet die Bezeichnung nicht abwertend. Mit einem Nest verbinden sich für sie Geborgenheit und Wärme. Nestwärme eben. Verächtlich wird das Wort erst durch bestimmte Vorsilben oder Adjektive. Wohlenberg-Liebeslaube heißt eine der Stationen, das gefällt Andrea. Und die Kirche der kleinen Stadt Klütz mit ihrem spitzen Dach hat es Andrea angetan. Sie wird sich später darüber informieren. Ein Teil der Strecke führt schon direkt am Meer entlang. Andrea schmunzelt. Nicht mehr lange, dann ist sie am Ziel.
In Boltenhagen hält der Bus an mehreren Stationen. Andrea fährt durch bis zur Endhaltestelle Weiße Wiek. Eine Dame unterhält sich mit einer anderen, zeigt gerade aus dem Fenster: "Und diese Häuschen dort gehören zum evangelischen Feriendorf." "Oh, danke, das ist auch für mich interessant", lächelt Andrea, "dort werde ich heute übernachten." Direkt an der Straße liegt die Feriensiedlung, die Bushaltestelle fast nebenan, und der Strand ist nur einen Katzensprung weit entfernt. Besser kann sie es gar nicht haben! Eingecheckt werden darf erst ab 15 Uhr, sie hat noch alle Zeit der Welt, um den Ort und vielleicht auch schon den Strand zu erkunden. Plötzlich meldet sich ihr Telefon. Das Familienferiendorf! Sie könne ihre Wohnung bereits jetzt beziehen, es seien nicht so viele Gäste angereist. Oder solle es bei 15 Uhr als Check-in-Zeit bleiben? Andrea wählt die erste Variante. Wie sie zum Feriendorf kommt, hat ja die sympathische Frau im Bus erklärt. Was Andrea als erstes auffällt, sind zwei Blumenbeete mit bemalten Steinen. Von einem der Beete empfangen sie zwei lustige Eulen. Auf dem anderen Beet bilden 3 Steine eine fröhliche Fischerfamilie. Andrea betritt das Häuschen, in dem sich die Rezeption befindet, begrüßt die freundliche Mitarbeiterin und nimmt den Schlüssel für ihre Ferienwohnung in Empfang. Es handelt sich bei dieser um ein eigenständiges Häuschen mit Holzfassade, weiß gestrichen, mit hellblauen Fenster- und Türrahmen. Typisch maritime Farbgebung eben. Das Hellblau findet sich auch bei einem Teil des Daches wieder. Die Wohnung ist klein und gemütlich. Eigentlich ist sie für 2 Personen vorgesehen. Ein winziges Bad mit Dusche und eine kleine, komfortable Küche gibt es ebenfalls. Andrea dreht die Heizung auf die höchste Stufe, und innerhalb kurzer Zeit wird es kuschelig warm in der Wohnung. Ihr Bett wird sie später beziehen. Sie zieht ihre Schuhe aus, nimmt Schal und Mütze ab und liegt erst einmal ein Weilchen Probe auf einem der weichen Betten. Ein Mohnblumen-Triptychon bildet den Blickfang an der Wand. Darunter ist ein kleines Regal angebracht, in dem eine Bibel liegt. Auf dem Tisch findet sie die Hausordnung, eine Übersichtskarte über den Ort und ein paar Ausflugstipps. Sie beschließt, zu einem späteren Zeitpunkt einen Blick hineinzuwerfen. Andrea legt den Weg zur Busstation Weiße Wiek noch einmal zu Fuß zurück. Danach gelangt sie in eine der anderen Feriensiedlungen, deren Name ihr vom Suchen im Internet her bekannt vorkommt. Sie schlendert die Dorfstraße, die auch so heißt, entlang, kommt an kleinen, hübschen Häusern vorbei - und landet schließlich wieder dort, wo sie in die Siedlung eingebogen ist. An einer Gaststätte namens "Blinkfür", Blink- oder Leuchtfeuer, hält sie kurz an. Danach geht´s die Straße hinunter zu einem Bioladen mit Bistro. "Stellshagen und Meer" nennt sich die Location und wirbt einem Leuchtturm vor der Tür um Gäste. Drinnen dominieren Einrichtungsgegenstände aus Holz; die derzeitige Dekoration erweist sich als interessanter Mix aus weihnachtlichen und maritimen Elementen. Kleine Weihnachtsbäume stehen in Töpfen, über die Jutesäcke gestülpt worden sind, welche an Kaffee- oder Zuckersäcke erinnern, wie sie auf Schiffen verladen werden. Neben den traditionellen Weihnachtskugeln schmücken Muscheln und Seesterne die Bäumchen. Schleifen aus Kordeln, die das Aussehen von Schiffstauen besitzen, aber natürlich viel dünner sind, erblickt Andrea ebenfalls. An der Decke sind Fischernetze befestigt, die mit Holzfischen und -muscheln behangen sind. Andrea setzt sich an eines der Tischchen und wählt einen Chai Latte. Wärmende Gewürze kann sie jetzt bestens gebrauchen. Draußen scheint zwar die Sonne, und an Regen oder Schnee ist nicht zu denken - aber es ist nun ´mal recht kalt, immerhin haben wir Mitte Dezember. Als sie an der Kasse bezahlt, fällt ihr ein Angebotsschild mit der Aufschrift "Heißer Hirsch" auf, und sie fragt, was sich dahinter verbirgt. Das sei ein Glühwein, bekommt sie zur Antwort. Da war Chai Latte für sie also doch die günstigere Wahl, denn Alkohol trinkt sie nicht.
Andrea läuft die Ostseeallee hinunter. Von hier aus führen mehrere Wege direkt zum Strand. Einen sucht sie sich aus - und gelangt zunächst zu einem Aktivspielplatz für Erwachsene. Sie stellt ihren Rucksack und die Geschenktüte auf eine Bank, macht ein paar Klimmzüge an einer Querstange. Auch ein Balanciergerät in Form eines Segelbootes sieht Andrea. Sie steigt auf die Metallplattform, ist sich nicht sicher, ob das Boot für eine oder zwei Personen konzipiert ist, schaukelt mehrere Male darauf in alle verfügbaren Richtungen. Nur wenige Schritte, und sie befindet sich am Strand. Die Wellen schlagen ans Ufer, sie genießt deren Rauschen und das des Windes. Sie begegnet nicht so vielen Leuten im Moment, meist handelt es sich um Pärchen oder Familien. Andrea atmet tief ein und aus, die reine, salzige Seeluft tut ihren Atemwegen gut. Sie geht zur Berghaltung Tadasana über, der sie im Lauf ihres Spaziergangs weitere Übungen folgen läßt. Immer wieder blickt sie fasziniert auf die Weite des Meeres hinaus. Sie findet ein paar Muscheln, doch nur wenige davon sind unbeschädigt. Eine, bei der die obere und die untere Schale noch vollständig sind, steckt sie sich ein. Inzwischen beginnt die Sonne, sich allmählich zu senken. Vor ihr wird die bekannte Seebrücke sichtbar. Diese ragt, wie Andrea später lesen wird, 290 Meter ins Wasser hinein und ist barrierefrei. Andrea blickt sich um; viel mehr Menschen sind es hinter ihr immer noch nicht geworden. Doch rings um die Brücke und darauf versammeln sich recht viele Leute. Die einen sind wohl aus der anderen Richtung gekommen, von der Steilküste her. Andere haben womöglich den Strandzugang vom angrenzenden Kurpark aus gewählt. Andrea geht bis zum Ende der Brücke. Dort ist ein großer Weihnachtsbaum aufgestellt, allerdings ungeschmückt bis auf die Lichterkette, die jedoch robuster wirkt als die Beleuchtung für die Tanne zu Hause. Klar, dieser Baum hier ist ja auch sämtlichen Wetterkapriolen ausgesetzt. Andrea genießt noch einmal einen ausgedehnten Blick aufs Meer, läuft danach zum Anfang der Brücke zurück. Die Sonne steht nun bereits ein ganzes Stück tiefer und färbt den Himmel am Horizont flammend rot. Andrea spaziert geradeaus und gelangt direkt zum Kurpark. Als erstes fällt ihr eine Vielzahl von Gaststätten auf. Restaurant reiht sich an Restaurant. Vornehmlich werden regionaltypische Gerichte dort angeboten, und im Norden ist das in erster Linie Fisch in allen erdenklichen Variationen. Andrea betritt einen weißen Pavillon mit dem Schriftzug Trinkkurhalle. Irgendwie erinnert sie das Wort an die Trinkhalle in Baden-Baden. Hier ist aber alles einige Nummern kleiner und beschaulicher. Andrea bestellt einen Apfelpunsch und trinkt ihn sehr langsam. Ihr bleibt noch viel Zeit. Und wo der Kurpark ist, dürfte der Kur- und Festsaal, in dem sie heute abend Ralf und Pat treffen wird, nicht weit sein - denkt sie. Wie sich herausstellt, beherbergt die Trinkkurhalle auch einen Shop für Kosmetik mit Meersalz, Algenextrakten und anderen maritimen Bestandteilen. Andrea nimmt sich einen Werbeflyer für diese Produkte von ihrem Tisch, bezahlt ihr Getränk und bedankt sich bei der Dame hinterm Tresen. Bei ihrem Rundgang durch den Park kommt sie an Geschäften für Souvenirs, Sportartikel und Outdoorbekleidung sowie an einem winzigen Laden, der trotz seiner geringen Größe Buchhandlung und Galerie in einem ist, vorbei. Es folgen, wie schon vorhin, diverse gastronomische Einrichtungen. 10, 12? Oder sind es mehr? Im Café Muschel tritt ein Gitarrist mit lateinamerikanischen Liedern auf, informiert eine Tafel. Andrea lauscht eine Weile von draußen. Der Musiker spielt soeben "The girl from Ipanema". Andrea kommt es in den Sinn, daß dieser Titel auch bei Let´s dance bereits eine Rolle gespielt hat. Nur in welcher Staffel? Es könnte eine der ersten gewesen sein. Andrea glaubt sogar, daß ihr das Lied schon beim Aufschreiben der Tanzerinnerungen begegnet ist. Sie betrachtet die Pflanzenarrangements in den teils mehrstöckigen Schalen, die überall in der Anlage anzutreffen sind. Winterharte Gewächse, zum Beispiel Erika in den verschiedensten Farben, schmücken die formschönen Pflanzgefäße. Andrea entdeckt einen Lageplan des Parks - und muß feststellen, daß sie sich geirrt hat: Der Kur- und Festsaal ist ein ganzes Stück außerhalb des Kurparks eingezeichnet.
Andrea fragt sich zum Veranstaltungsort durch. Den Weg geradeaus zurück auf die Ostseeallee, wird ihr geantwortet, anschließend nach rechts hinunter bis zu einem Kreisverkehr, von dort nach links, und dann sehe man zunächst eine Schule, danach den Festsaal. Andrea möchte schon jetzt diese Richtung einschlagen, damit sie nicht kurz vor der Vorstellung ins Suchen und womöglich in Panik gerät. Sie passiert mehrere Ferienwohnungen und -häuser, das imposante Seehotel und ein paar Lädchen entlang der Hauptstraße. Mittlerweile ist es ziemlich dunkel geworden. Andrea hört abwechselnd eine männliche und eine weibliche Stimme nach Snoopy, wahrscheinlich einem Hund, rufen. Irgendwann wechselt die Ostseeallee ihren Namen in Dünenweg. Und dort ist endlich auch der Kreisverkehr! Andrea liest auf der gegenüberliegenden Seite die Namen dreier Restaurants. Chinesisch ist dabei, italienisch und ... Goa, entziffert sie. Das kann nur indisch sein! Und so verhält es sich auch. Allerdings öffnet das Lokal erst um 17 Uhr wieder, und so spät ist es noch nicht. Andrea überquert die Straße in entgegengesetzter Richtung, nimmt zunächst die hellerleuchteten Fenster einer Kirche wahr - das Gebäude selbst ist jedoch verschlossen. Einige Meter weiter sieht sie die Schule, von der ihr bei der Beschreibung des Weges erzählt worden ist. Ein hoher, lichterglänzender Weihnachtsbaum gerät als nächstes in ihr Blickfeld. Und dort gibt es einen Weg, leider nicht ausreichend beleuchtet, wie Andrea findet. Der führt zu einem weiteren Haus. Den Aussagen der Leute nach müßte dies der Festsaal sein. Die entsprechende Inschrift über der Tür auf der rechten Seite bestätigt Andreas Vermutung. Der Eingang steht weit offen, nebenan parkt ein Transporter mit allerhand technischen Geräten darin, Kabeln, Lautsprechern, Verstärkern. Das Kennzeichen des Wagens beginnt mit LWL, Ludwigslust, offensichtlich gehört das Fahrzeug zu einer Firma hier in der Nähe. Weitere Autos sind nicht zu sehen, auch keine Menschen. Links kann Andrea in einen Saal mit Stuhlreihen und einer Bühne blicken. Seitlich der letzteren ist ein Tannenbaum zu erkennen. Allzu groß wirkt der Raum nicht. Leute sieht sie hier ebenfalls keine, es ist wohl noch viel zu früh. Sie läuft einmal um das Gebäude herum, findet jedoch nichts, was ihrer Meinung nach einem Eingang ähnlich sieht. Andrea checkt die Zeitanzeige ihres Handys; das indische Restaurant dürfte inzwischen wieder offen sein. Sie läßt sich einen Yogitee mit Milch und Honig bringen, wählt aus der Speisekarte das Gericht Sabzi Chana Biryani, das sind mehrere Sorten Gemüse, mit Früchten und Nüssen verfeinert. Dazu werden ihr die Joghurtsauce Raita und eine reichliche Portion Basmatireis serviert. Andrea sucht sich noch Peshwari Naan als Beilage aus, eine Fladenbrotspezialität mit Rosinen und anderen Früchten darin. Alles ist wohlschmeckend und wärmend. Frisch gestärkt begibt sich Andrea ein zweites Mal zum Festsaal. Dieses Mal erblickt sie mehrere Personen im Saal, die immer wieder in Richtung der Bühne zeigen. Jemand schaltet abwechselnd das Licht im Raum an und wieder aus. Andrea sieht sich die Menschen genauer an. Es sind Männer und Frauen. Ralf oder Pat sind nicht zu sehen. Ein dunkel gekleideter Typ läuft aus der Tür, über der "Festsaal" zu lesen ist, heraus, strebt auf den Technikwagen zu. Andrea kennt auch ihn nicht. Der Mann sucht etwas in dem Fahrzeug. Ob er Andrea gesehen hat? Sie dreht wieder eine Runde um das Haus. Wo ist nur der verflixte Besuchereingang? Was sie beobachtet hat, sieht nach backstage aus. Andrea biegt in eine der Nebenstraßen ein, kommt an kleinen Einfamilienhäusern vorbei und an einem Feuerwehrdepot. Es folgt eine weitere Straße, die von Ferienwohnungen und kleineren Gaststätten flankiert ist. Ein Kiosk preist mehrere Sorten Fischbrötchen an. Matjes, Backfisch, Bismarckhering. Andrea beendet ihren Rundgang durchs Viertel, langt erneut beim Festsaal an. Diesmal versucht sie, durch den Eingang zu gelangen, liest auf der Tür zu einem anderen Raum jedoch: "Kein Zutritt!", weicht zurück. Sie will einen weiteren neugierigen Blick in den Saal werfen, da kommen ihr zwei Damen entgegen, die ebenfalls auf der Suche nach dem richtigen Eingang sind. Beide sprechen mit leichtem norddeutschem Akzent. " `Festsaal´, hier müßte es sein", meint die eine. "Dachte ich auch", Andrea schüttelt den Kopf, "aber drinnen steht: Kein Zutritt. Und auf der anderen Seite gibt es zwar eine Tür, die sieht jedoch nicht nach Eingang aus." Die drei umrunden das Gebäude. "Meinst Du die?" fragt die Begleiterin der ersten Lady. "Ja", erwidert Andrea. "Die könnte es aber sein, wir bleiben einfach hier stehen", entscheidet Dame Nr. 1. "Wir sind Groupies", flachst die andere flüsternd. Vielleicht ist es ja auch gar kein Scherz. Andrea grinst. Wahrscheinlich bin ich mehr Groupie als Ihr beide zusammengenommen, von so weit her angereist scheint Ihr, Eurem Tonfall nach zu urteilen, nicht zu sein. Wobei ich heute bestimmt auch nicht die weiteste Anfahrt von allen hatte. Nach und nach gesellen sich mehr Besucherinnen dazu, zu sechst ist man inzwischen und noch immer ein reiner Mädelsverein. Wie sollte es auch anders sein? Andrea muß schon wieder schmunzeln.
Die Annahme der ersten Dame erweist sich als richtig; die Tür wird aufgeschlossen. Andrea hätte hier keinen Eingang vermutet; hier ist nichts ausgeschildert oder plakatiert. Drinnen ist es leider nur unwesentlich wärmer. Trotzdem hängen einige Gäste ihre Jacken an die Garderobenständer. Andrea setzt nur ihre bordeauxfarbene Mütze ab. Sonderlich gut geheizt scheint auch der Saal nicht zu sein. Andrea zeigt ihre Eintrittskarte, die sie sich schon vor Wochen hat online reservieren lassen - sicher ist sicher. Es herrscht freie Platzwahl. Andrea könnte auch noch in der ersten Reihe sitzen, es sind genügend unbesetzte Stühle vorhanden. Doch sie nimmt in der dritten Reihe Platz, wählt einen Sitz nahe am Mittelgang. Erstklassige Sicht garantiert, denkt sie. Sie bewundert den hübsch dekorierten Tannenbaum. Ein paar Technikleute machen sich an der Elektrik zu schaffen. Zwei Ladies vor ihr unterhalten sich über Ralf. Der sei ja nach "Let´s dance" überhaupt nicht mehr im Fernsehen zu sehen gewesen, behauptet die eine, und auch das sei schon wieder eine Weile her. Letzteres stimmt natürlich, aber nach der Tanzshow hat es ja immerhin noch den Film "Herzenssache" gegeben und einige kürzere Auftritte in TV-Sendungen. Doch sie hat keine Lust, das Mädel zu korrigieren, freut sich ganz einfach auf den heutigen Abend. Auch wenige Minuten vor Veranstaltungsbeginn bleiben etliche Plätze frei. Andrea hat mit einem nahezu ausverkauften Haus gerechnet, dem Vernehmen nach sollte man sich bei diesen Vorstellungen besser rechtzeitig um Karten kümmern. Inzwischen ist das Publikum gemischter geworden, die Herren befinden sich jedoch eindeutig in der Unterzahl. Auch ein paar Kinder sieht Andrea, größere, fast Jugendliche schon, geschätzt zwischen 12 und 14 Jahren. Andrea stellt ihre beiden Telefone auf "Leise", es soll ihr nicht das gleiche passieren wie Ralfs Mama im Juni in Baden-Baden, mitten in der Spontan-Kreativ-Performance mit PunkArt.
Da wird das Licht im Raum gedämpfter, und Andrea hört hinter sich Ralfs wohlbekannte Stimme. Er kommt in Richtung Bühne geeilt, seinen Textekoffer in der Hand, durch den Gang zwischen linkem und rechtem Teil der Stuhlreihen, also auch an Andrea vorbei. Er wirkt aufgeregt, rezitiert ein Gedicht in einem lustigen Kauderwelsch aus Deutsch und Englisch, Denglish sozusagen, namens "Merry Christmas allerseits". In dem Text geht bei den Weihnachtsvorbereitungen und auch während des Festes selbst manches drunter und drüber, der Mutter brennt die Weihnachtsgans an, und am Tannenbaum stehn nicht nur die Kerzen in Flammen, so daß die Feuerwehr gerufen und das Fazit gezogen wird, Weihnachten sei nun endgültig da, woher laut Armin Rohde die Stimme kommen soll. Andrea lacht laut, klatscht Beifall und fragt sich, ob Ralf sie wohl erkannt hat, als er durch die Reihen gestürmt ist. Kann sein, muß aber nicht, denkt sie. Als sie im Chor sang, noch in Cottbus, hat sie von der Bühne aus im Publikum auch nicht einzelne Personen wahrnehmen können. Jetzt ist die Anzahl der BesucherInnen hier im Festsaal zwar relativ überschaubar, aber Ralf hatte ja immerhin noch einen Text vorzutragen, da blieb gewiß keine Zeit, zu den ZuschauerInnen zu gucken. Ralf ist inzwischen auf der Bühne angelangt, gibt ein paar Kindheitserinnerungen zum besten aus dem Dorf im Badischen, in dem er aufgewachsen ist. In einer Großfamilie, die Oma sei, wie er charmant übertreibt, "katholischer als der Papst" gewesen, und Opa habe deshalb sonntags immer das Essen vorbereitet, weil Oma so viel Zeit in der Kirche zubrachte. Inzwischen habe er persönlich das Glück, beruflich und privat oft reisen zu dürfen, er habe die unterschiedlichsten Länder und Kulturen kennengelernt. Seine beste Freundin sei Tibeterin - das ist sicher Ringzing, geht es Andrea durch den Kopf -, sein Lieblingskollege ein Italiener - darauf kann sie sich im Moment keinen Reim machen -, und einen iranischen Mitbewohner habe er auch bereits gehabt. Von hinten erklingen leise Gitarrentöne. Pat erscheint, er spielt und singt "Over the rainbow", es hört sich sanft und angenehm an. Und Let´s dance ist auch hier präsent, schmunzelt Andrea. Isabel und Tim, später Sandy mit Sergiu. Ralf hat sich hinter dem Notenständer aufgestellt, der ihm als Manuskripthalter dient. Dieses Utensil ist Andrea bereits aus Baden-Baden vertraut. Für den nächsten Text schlüpft Ralf in die Rolle eines Nachrichtensprechers, der die Ereignisse der Weihnachtsgeschichte in Form knapper Meldungen vorträgt, und zwar so, als seien sie nicht vor über 2000 Jahren, sondern in der heutigen Zeit passiert. Ralf bemerkt wenig später einen sehr jungen Gast im Publikum, fragt nach dessen Namen. "Marlon", antwortet der angesprochene Junge. "Wie alt bist Du, Marlon?" möchte Ralf wissen."12",erhält er zur Antwort. "Und bist Du freiwillig hier?" "Na, klar!" Einige im Saal kichern. Seltsame Frage, denken sie wohl. Und Andrea überlegt: Wenn er einen kleinen Jungen in einer der hinteren Reihen erkennt, dann hat er vielleicht auch mich gesehen?! Später ist Hans-Dieter Hüschs Gedicht "Feiertage" an der Reihe. Auch in diesem Text verläuft beim Fest der Familie nicht alles reibungslos. Und doch schwört man sich, nächstes Jahr zu Weihnachten erneut zusammenzukommen. "Kennst Du das von Eurer Familie auch, Marlon?" erkundigt sich Ralf. "Doch, ein bißchen schon", entgegnet der Junge etwas verlegen. Andrea ahnt, daß Ralf sich Marlon im weiteren Verlauf des Abends noch mehrmals zuwenden wird. Als Pat "Always look on the bright side of life" anstimmt, erscheinen vor Andreas geistigem Auge Manuela und Massimo beim Slowfox. Sie ertappt sich dabei,daß sie mit den Fingern den Takt des Songs klopft und dazu mit dem Fuß wippt. Und sie lächelt, als sie sieht, wie Ralf es ähnlich macht. Der ist auch heute nicht zum Singen zu bewegen, überläßt diesen Part vollständig seinem langjährigen Bühnenpartner und guten Freund Pat. Ralf erzählt von seinen Anfängen an der Hamburger Schauspielschule, streut eine badische Fassung des berühmten Hamletmonologs ein, von der Andrea nicht viel mehr als das einleitende "Sein oder Nichtsein" versteht. Und er habe Hamburg liebgewonnen, auch eine Zeitlang dort gewohnt. Pat lebe ja seit 2000 da. Er selbst möge ja auch das Meer, selbst dessen rauhe Seite. Und liebend gerne hätte er sich heute in Boltenhagen umgesehen. Nur sei er erst sehr spät eingetroffen, da sei keine Zeit mehr geblieben. Cool wäre das gewesen, denkt Andrea, dann wären wir uns vielleicht vor der Vorstellung über den Weg gelaufen! Aber mach es doch morgen, da hast Du frei, denkt Andrea. Kann sein, sie spricht es sogar aus. Doch Ralf erklärt fast im selben Augenblick, er müsse morgen früh bereits wieder weg, habe einen Termin. Wie schade, seufzt Andrea im stillen, da werden wir nachher gar nicht lange reden können. Sie wendet sich wieder dem Geschehen auf der Bühne zu, das lenkt sie ein wenig von ihrer Enttäuschung ab. Heitere Texte wechseln sich ab mit nachdenklichen. Von den letzteren beeindruckt Andrea vor allem das "Märchen vom Auszug aller Ausländer". Das beginnt damit, daß kurz vor Weihnachten eine Gruppe Neonazis "Ausländer 'raus!" und "Deutschland den Deutschen!" grölt und an Häuserwände sprüht. Daraufhin verlassen Kaffee, Kakao, exotische Früchte und Gewürze die Geschäfte, reisen in ihre Ursprungsländer zurück. Elektronische Geräte gehen nach Japan, die Weihnachtsgänse flattern in ihre polnische Heimat. Autos zerfallen in ihre Bestandteile, die in verschiedenen Gegenden der Erde produziert worden sind. So geht es weiter, bis schließlich die Rechtsradikalen mit ein paar Äpfeln, Nüssen und Tannenbäumen allein sind. Andrea findet, daß es sehr wichtig und zugleich mutig ist, ein so brisantes Thema anzusprechen, gerade hier in Mecklenburg-Vorpommern, wo erschreckend viele aus der Bevölkerung ihre politische Hoffnung auf eine Rechtsaußenpartei setzen. Ein Gedicht berichtet von einem Mann, der seinem Enkel erzählt, daß früher an der Weihnachtstanne keine Lichterketten, sondern Wachskerzen leuchteten. Das Kind mag dies kaum glauben. 50 Jahre danach hat es selbst ein Enkelkind. Und dieses guckt ganz ungläubig, als der Opa schildert, in seiner Kindheit habe man sich noch echte Weihnachtsbäume in die Wohnung gestellt, keine aus Plastik wie heutzutage. Auch dieses Kind ist 50 Jahre später selbst Großvater. Sein Enkel lauscht dessen Kindheitserinnerungen. Das Weihnachtsfest ist dem Kleinen gänzlich unbekannt, und er fragt sogar, was ein Baum ist. Dem Beifall für diesen Text gehen ein paar Sekunden betroffenen Schweigens voraus. Mitten in einem der Beiträge fängt Ralf auf einmal an, nervös in seinen Aufzeichnungen zu blättern. Er habe den Anschluß an die vorhergehende Textseite verloren, gesteht er dem Publikum. Eventuell müsse die Pause vorverlegt werden, teilt er den Gästen im Saal weiterhin mit. Er sucht Blickkontakt mit Pat, wartet wohl dessen Einverständnis ab. Und Andrea erkennt sich nicht zum erstenmal selbst wieder in ihm. Sie entsinnt sich, daß sie einmal ein ähnliches Erlebnis hatte. Damals hatte ein Bekannter sie gebeten, einen mehrseitigen Text, den er ihr ansagte, zu notieren und anschließend als Brief zu versenden. Nachdem sie etwas mehr als die Hälfte geschrieben hatte, fielen die Seiten zu Boden und gerieten durcheinander. Andrea versuchte verzweifelt, die Blätter zu ordnen. Der Text enthielt unzählige juristische Fachbegriffe, mit denen sie nicht das Geringste anfangen konnte. Daran, die Seiten zu numerieren, hatte sie peinlicherweise nicht gedacht. Schließlich blieb ihr nichts anderes übrig, als ihren Bekannten um Unterstützung zu bitten. Dieser schimpfte zwar zuerst über ihre Schusseligkeit, half dann aber doch bereitwillig beim Sortieren. Ralf hat inzwischen zum Glück die gesuchte Seite wiedergefunden, rezitiert den Text zu Ende. Pat, in weißem Hemd, schwarzem Anzug und Schiebermütze, singt "Imagine". Andächtig hört Andrea zu. Bei der Zeile "You may say I'm a dreamer but I'm not the only one" schickt sie ein Lächeln zu Ralf, der heute ' mal wieder auf dunkle Farben setzt, die weißen Turnschuhe ausgenommen. Wir träumen doch beide von einer besseren, friedlichen, gewaltfreien Welt, denkt sie.
Als es nach einiger Zeit tatsächlich in die Pause geht und die zwei Akteure hinter der Bühne verschwunden sind, läuft Andrea ins Foyer. Einen Merchandisingstand sucht sie vergebens. Einige ZuschauerInnen begeben sich vor die Tür. Nach draußen zieht es Andrea nicht. Hier drinnen ist es kalt genug. Sie bindet ihren Schal, in dem sich der dunkelrote Farbton der Mütze mit Weiß und kräftigem Lila trifft, etwas fester und betritt wieder den Saal. Die Mischung aus Ernstem und Humorvollem rund ums Weihnachtsfest bestimmt auch den zweiten Teil des Programms. Der Humor erweist sich teilweise als recht gewöhnungsbedürftig, schätzt Andrea ein. Da ermordet in der Adventszeit eine Försterin ihren Mann. Und es gibt ein äußerst skurriles Plätzchenrezept, dessen Hauptzutat Whisky zu sein scheint. Der soll aber nicht im Teig landen, sondern während des Backens immer wieder, Glas für Glas, getrunken werden. Mit dem Ergebnis, daß am Ende sämtliche Arbeitsgänge und Zutaten vertauscht, die Nüsse beispielsweise ausgepreßt und die Zitronen feingehackt werden. Und statt 2 Tassen Mehl werden 2 Tassen Salz gesiebt. Obwohl Ralf den beschwipsten Plätzchenbäcker recht überzeugend darstellt, gehört dieser Beitrag nicht zu ihren Lieblingstexten des heutigen Abends, auch angesichts der Kinder im Publikum. Marlon übrigens wird im Lauf der Vorstellung noch mehrere Male nach seiner Meinung zu den Texten und Liedern gefragt, und er reagiert sehr schlagfertig. Stichwort Lieblinge: Ralf trägt den Klassiker "Schenken" von Ringelnatz vor, einem seiner Lieblingsautoren, wie er betont. Zwischendurch stößt er mit dem Fuß an den Manuskriptständer an, rutscht seitlich weg, kann sich aber halten. An Körperbeherrschung hat er mir einiges voraus, geht es Andrea durch den Kopf, nicht verwunderlich bei seiner jahrelangen Lu-Jong-Praxis. Aber Glück bringe ich ihm keines, wie es aussieht. Fast immer passieren irgendwelche seltsamen Sachen, wenn ich bei ihm bin. Später liest er das Erich-Fried-Gedicht "Bethlehem heißt auf Deutsch Haus des Brotes", ein ernstes Werk, das das Thema Hunger in den Fokus rückt. Ein weihnachtliches Programm ohne "Stille Nacht"? Fast unvorstellbar. Also greift Pat in die Saiten und singt dazu dieses wahrscheinlich berühmteste Weihnachtslied. "Der Tanz des Räubers Horrificus" ist eine auf den ersten Blick lustige Erzählung, die dennoch zum Nachdenken anregt. Heinz Erhardts Gedicht "Feste" wirft die Frage auf, weshalb Weihnachten so besinnlich gefeiert wird, obwohl an diesem Tag Jesus geboren wurde. Im Vergleich dazu wird das Osterfest weitaus ausgelassener begangen, dabei ist er gerade einmal 2 Tage vorher gestorben. Ein netter Gedanke, findet Andrea - allerdings wird ja nicht der Tod, sondern die Auferstehung gefeiert. Pat präsentiert das spanische Weihnachtslied "Feliz Navidad", zuerst in der Originalversion, danach in einer deutschen Nachdichtung, die "Bald ist es soweit" heißt. Wie viele gar nicht wissen, ist dieses Lied erst 1970 von José Feliciano geschrieben worden, es handelt sich dabei also keinesfalls um ein Traditional. In einem Gedicht wird die Frage diskutiert, wann Weihnachten nun eigentlich wirklich beginnt. Und auch der Chansonnier Jacques Brel hat sich gedanklich mit dem Weihnachtsfest beschäftigt und mit den Erzählungen aus der Bibel ganz allgemein - was, wenn das alles wahr wäre? "Ihr Kinderlein, kommet" erhält ein neues Gesicht, allerdings kein erfreuliches: Ralf mimt den gestreßten Familienvater, der seine Kinder nach jeder von Pat gesungenen Zeile zu irgend etwas ermahnt: stillzusitzen, nicht zu viel Krach zu machen, sich die Hände zu waschen und so weiter. Viel zu schnell ist das Programm zu Ende. Ralf macht auf die Doppel-CD zu dieser Veranstaltungsreihe aufmerksam, die man anschließend bei Pat und ihm käuflich erwerben könne. Auf dem Cover sei eine Zeichnung abgebildet, die Pat als Osterhasen und ihn selbst als Weihnachtsmann zeige - wenn man das wisse, erkenne man die 2 auch, merkt er augenzwinkernd an. Darunter stehe "Glaubst Du an mich, glaub' ich an Dich". Das sei ´mal ein Spruch auf einer Weihnachtskugel gewesen, der ihn schon lange fasziniere. Abschließend wünschen beide den Anwesenden ein frohes Weihnachtsfest und ein glückliches Neues Jahr.
Doch die wenigsten möchten nach dem Schlußapplaus sofort dem Festsaal den Rücken kehren. Pat ist nicht zu sehen. Ein paar Damen fragen nach Selfies mit Ralf. Eine umarmt ihn stürmisch. Da hält Andrea, die mittlerweile ihre Mütze wieder aufgesetzt hat, sich zurück, man kann mit einer falschen Geste manchmal auch viel zerstören. Also beläßt sie es beim Händeschütteln, einem "Grüß Dich" und einem Lächeln. "Hallo, Andrea", begrüßt er sie und lächelt ihr ebenfalls zu. "Wow, Du kennst mich noch", staunt sie, "Baden-Baden liegt doch schon wieder ein halbes Jahr zurück." Jetzt vergißt er mich garantiert nicht mehr, denkt sie. Dann geht es zu dem kleinen Stand, an dem Pat die CDs zum Weihnachtsprogramm und auch noch ein paar andere Tonträger von sich und seiner Band anbietet. Andrea kramt in ihrer roten Tüte, angelt das Frühstücksbrettchen, das Wildpferd und das Pfefferkuchenhäuschen heraus. Die beiden freuen sich über die Geschenke. "Teilt Euch ´rein", bemerkt Andrea, "freundschaftlich, kollegial oder wie Ihr wollt." "Geteilt wird sowieso", erwidert Pat lachend. Andrea bedankt sich für das tolle, abwechslungsreiche Prográmm, erwähnt auch, daß sie an der Stelle mit den durcheinandergeratenen Seiten an ein eigenes Erlebnis erinnert worden ist. "Mit meinen Gitarrensaiten war doch alles in Ordnung", grinst Pat. "Nein, ich meinte Ralf und die Textseiten." Ach so - das ist mir das erstemal passiert", erklärt Ralf. "Hast sie ja dann schließlich doch gefunden", Andrea schmunzelt. "Und es ist so schade, daß Du morgen schon gleich wieder wegmußt", fügt sie hinzu. "Ja, gleich am frühen Morgen", bestätigt Ralf, und Andrea meint, Bedauern auch aus seinen Worten herauszuhören. Sie kauft die Doppel-CD, läßt sie von beiden signieren. "Alles Liebe", schreibt Ralf dazu. Das hat er in Karlsruhe damals auch getan, fällt ihr ein. Sie wünscht den zweien einen schönen 3. Advent - vor Weihnachten wird man sich ja sicher noch einmal auf facebook treffen, denkt sie - sowie eine gute Nachhause- (für Pat) bzw. Weiterfahrt (für Ralf). Von letzterem möchte sie wissen, ob er heute Ankerarmbänder dabeihabe. Hat er jedoch nicht. Ein abschließender Händedruck, ein letztes "Tashi delek" - und dann steht sie auch schon wieder draußen in der Dezembernacht. Kalt ist ihr nicht, angenehm warm sogar, obwohl sich die Außentemperatur in den vergangenen 2 Stunden sicherlich nicht erhöht hat. Auf dem Weg zu ihrer Ferienwohnung läßt sie den wunderbaren Abend noch einmal gedanklich Revue passieren. In ihrem Zimmer blättert sie in den Ausflugstipps und überlegt, wohin sie morgen gehen könnte. Auf alle Fälle möchte sie bis zur Steilküste laufen. Aber vielleicht läßt sich später noch etwas dazunehmen? Sie findet einen Hinweis zum Buddelschiffmuseum, der Privatsammlung eines Liebhabers der Schiffe in Flaschen.
Am Sonntagmorgen packt sie ihre Sachen, checkt pünklich 10 Uhr aus und begibt sich zum Strandzugang Albin-Köbis-Siedlung. Gestern, so hat sie auf dem Ortsplan ausgemessen, ist sie knapp einen Kilometer am Strand entlanggewandert. Heute stehen ihr, will sie ihr Ziel erreichen, etwa 3 Kilometer bevor. Zeit bleibt ihr genug. Es ist merklich windiger als gestern, auch die Sonne läßt sich nur selten blicken, graue Wolken verdunkeln den Himmel. Aber es bleibt trocken. Als sie die Seebrücke erreicht, beschließt sie, wieder im Kurpark eine Rast einzulegen. Sie wird sich ein warmes Getränk bestellen, fühlt sich ziemlich durchgefroren. Im Restaurant "Zur Düne" kann man unter anderem heißen Sanddornsaft trinken. Die orangefarbenen Beeren haben einen sauren Geschmack und enthalten jede Menge Vitamin C. Aus beiden Gründen wird Sanddorn als die "Zitrone des Nordens" gerühmt. Wem der pure Saft zu herb schmeckt, kann Zucker dazugeben, und das tut Andrea. Einige Tische weiter unterhalten sich ein paar Gäste. Andreas Gedanken sind bei Ralf, der um diese Zeit seinen Termin sicher schon hinter sich hat. Wenn er vom "frühen Morgen" spricht, meint er nicht 9 oder 10 Uhr damit. Sie versucht, Teile des Gesprächs aufzuschnappen. Sehen kann sie die Leute nicht. Soeben meldet sich eine männliche Stimme: "Na, ist ja schön, daß es Dir gestern abend gefallen hat, Marlon." Andrea schrickt schlagartig aus ihrem Wachtraum auf. Marlon? Ist das ein so beliebter Name in Norddeutschland? Da hört sie, wie eine Frau fragt: "Hat er das mit dem Backrezept auch gebracht, dort, wo alles verwechselt wurde?" "Hat er, Mama", antwortet eine helle Jungenstimme. Andrea glaubt, ihren Ohren nicht zu trauen. Das ist tatsächlich der Marlon, der gestern mit bei der Vorstellung war! Eindeutig. Und die Mama konnte nicht mitkommen, scheint das Programm aber bereits von einem früheren Besuch her zu kennen. Andrea trinkt aus. Sich einfach in die Unterhaltung einmischen mag sie nicht. Das gehört sich doch nicht, andere beim Essen zu stören! Sie kann es noch immer nicht fassen, gibt ihr Glas bei der Kellnerin ab. Bezahlt hat sie schon am Anfang. Die Leute an Marlons Tisch sind mit dem Essen fertig. "Verzeihung - Ihr wart gestern auch im Festsaal?" fragt Andrea einen Mann. "Ja", bestätigt dieser, "Marlon auch, aber seine Mama nicht." "Ralf soll hin und weg von Marlon gewesen sein", grinst die Erwähnte. "Richtig", entgegnet Andrea, "und ich auch - von Marlon - na ja, nicht nur", setzt sie hinzu. Schallendes Gelächter in der kleinen Runde, Andreas Anspielung ist sicher verstanden worden. "Marlon muß gleich weiter, zum Fußballtraining", erklärt die stolze Mama fast entschuldigend. "Viel Spaß", wünscht Andrea dem Jungen und danach allen eine schöne Advents- und Weihnachtszeit. Auf dem Weg zur Steilküste versucht sie, das gerade Erlebte zu verarbeiten. Boltenhagen mag ein Dorf sein, doch gerade im Kurpark locken diverse Restaurants potentielle Gäste an. Und sie setzt sich gerade in jenes, in dem auch Marlon ist. Der wiederum ist Ralf gestern abend aufgefallen, obwohl noch einige andere Kinder im Saal waren. Andrea schüttelt den Kopf. An Zufälle glaubt sie schon lange nicht mehr. Ihr fällt auf einmal das Ringelnatz-Gedicht vom Briefmark ein. "... da hat er verreisen müssen". Hätte Ralf dieses gestern rezitiert, wäre sie in Tränen ausgebrochen. Und nun hat sie Marlon wiedergetroffen. Wenn das alles nicht irgendwie miteinander in Verbindung steht, dann weiß ich auch nicht, denkt Andrea. Am Beginn der Steilküste verabschiedet sie sich vom Strand, nimmt den Weg in Richtung Ostseeallee, der sie durch die Fritz-Reuter-Siedlung mit traditionellen Fachwerk- und Klinkerhäuschen führt. Das Buddelschiffmuseum ist leider geschlossen, obwohl es laut dem Heft aus der Feriensiedlung sonntags ab 13 Uhr offenstehen soll. 15.40 Uhr fährt ihr Bus nach Wismar. Oh, da gibt es noch einen 2 Stunden früher, stellt sie an der Bushaltestelle nach einem flüchtigen Blick auf den Fahrplan fest. Da könnte sie vielleicht etwas zeitiger fahren und sich ein wenig in Wismar umsehen. Ach nein, das gilt ja nur innerhalb der Saison, bis Ende September. So geht sie nochmals im Kurpark spazieren, betritt ein weiteres Mal die kleine Buchhandlung mit angeschlossener Galerie. Bestellt sich in einem niedlichen Café namens Einraum einen mit Nußnougatcrème verfeinerten Latte Macchiato. Ein spätes Mittagessen nimmt sie im Restaurant "Zur Seebrücke" ein, probiert ein veganes Stew und einen heißen Cranberrysaft. Zur Bushaltestelle zurückgekehrt, wartet sie auf die Linie 240. Zeit, lange durch Wismar zu bummeln, wird sie nun doch nicht haben. Doch sie hat ja so viel Unvergeßliches erlebt an diesem dritten Adventswochenende in Boltenhagen, dem traditionsreichen Ostseebad - zwischen Düne und Bühne.
Zuletzt bearbeitet von plejadengirl am Di 02. Jan. 2018 19:43, insgesamt 3-mal bearbeitet
Rückblende. Sonntagnachmittag, 24. 12., gegen 15 Uhr. Jekaterina hat ihre Familie in Rußland mit ihrem Besuch überrascht. Jetzt sitzt sie mit ihren Eltern bei Tee und Gebäck.
Jekaterina (nimmt ein Paket aus ihrer Tasche): Ich habe auch selbst Plätzchen gebacken. Die sind nach einem Rezept von Julius`Mama.
Papa: Julius - ist das Dein Tanzpartner von vor 2 Jahren?
Jekaterina: Nein - vom vorigen Jahr. Aber lieb sind beide.
Mama: Das ist ja wunderbar, Katjenka, ich hole gleich noch eine Schale und lege die Plätzchen hinein.
Jekaterina: Danke, Mama. Laßt sie Euch schmecken.
Papa: Und wir haben gestern Quarkbällchen gebacken.
Jekaterina: Mmmh! Als hättet Ihr gewußt, daß ich komme. Das ist so lieb von Euch, die mochte ich als Kind schon so gerne.
Mama: Was macht Dein Studium, Kind?
Jekaterina: Alles OK. Zur Zeit haben wir ja Ferien.
Papa: Oh, Du hast noch andere Plätzchen gebacken, golubka*.
Jekaterina: Nein - die sind von meiner Kollegin Kathrin.
Mama: Das ist das Mädel aus Wien, oder?
Jekaterina: Ganz genau. Die Tanzpartnerin von Vadim. Die zwei sind gerade wieder Weltmeister geworden.
Papa: Molodzy!**
Jekaterina: Die beiden sind wirklich nicht zu toppen.
Mama: Dafür hast Du aber dieses Jahr Let´s dance gewonnen, mit dem netten Sänger.
Jekaterina: Mit Gil, das stimmt.
Papa: Lecker, Deine Plätzchen.
Jekaterina: Danke! Das Lob gebe ich an Julius weiter.
Mama: Tanzt Du nächstes Jahr wieder mit?
Jekaterina: Das würde ich sehr gerne. Ich weiß es aber noch nicht genau.
Papa: Budjet***.
Jekaterina: Das hoffe ich ja auch, doch das letzte Wort hat eben der Fernsehsender.
Mama: Verstehe.
Jekaterina: Die Quarkbällchen sind super. Wie damals, danke schön!
Papa: Das freut mich, daß sie Dir schmecken, Schätzchen.
Mama: Kathrin kann auch toll backen.
Jekaterina: Das finde ich auch. Kathrin kann anscheinend alles.
Papa: Magst Du noch Tee, Katjenka?
Jekaterina: Sehr gerne, ich danke Dir.
Mama: Nachher können wir gemeinsam die Jolka**** schmücken. Mascha ist zu einer Freundin gegangen.
Jekaterina: Ich freue mich so darauf, meine liebe Schwester wiederzusehen.
(Tür öffnet sich, Jekaterinas Schwester Mariia betritt die Wohnung)
Mariia: Hallo Süße, das ist ja eine Überraschung! Wie geht´s Dir?
Jekaterina: Gut, danke. Es ist so schön, Dich zu sehen!
Mariia: Wann bist Du denn gekommen?
Jekaterina: Vielleicht vor 2 Stunden. Geht es Dir auch gut, Maschka?
Mariia: Bestens.
Mama: Maschenka, setz Dich doch bitte auch zu uns. Möchtest Du Tee? Und Plätzchen gibt es auch, selbstgebackene von Deiner Schwester.
Mariia: Tee nehme ich gerne, danke. Und von den Plätzchen probiere ich auch.
*golubka - russ.: Täubchen (Koseform, meist für weibliche Personen)
**molodzy - russ. etwa: prima gemacht - wenn es über mehrere Personen gesagt wird (Mehrzahl von molodjez)
***budjet - russ.: es wird (im Sinne von: das wird schon werden, das klappt schon)
****jolka - russ.: Tannenbaum (auch Bezeichnung für das russische Neujahrsfest)
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